Matisse als Lehrer
Seine ersten Skulpturen schuf Henri Matisse 1894. Zwei Frauenprofile auf einem Medaillon. 69 Arbeiten folgten im Laufe seines Lebens. Von Anfang an betrieb der Künstler beide Tätigkeiten. Er malte und modellierte. Selbst wenn sein bildhauerisches Schaffen überschaubar ist, verglichen mit Picassos plastischem, rund siebendhundert Arbeiten umfassenden Werk, zählt es doch zu den kühnsten in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts. Matisse setzte Impulse von weitreichender Kraft, modellierte mit sinnlicher Intensität, um die „innere Form“ zu finden. Seine Skulpturen hütete er als Ateliergeheimnisse.
„Ich modelliere ebenso gerne wie ich male – ich habe da keine Vorliebe“, äußerte er. „Ist das Ziel dasselbe und bin ich eines der Ausdrucksmittel müde, so wende ich mich dem anderen zu… Wenn ich das Problem in der Skulptur gefunden hatte, half mir das für die Malerei…“
Diese Erfahrungen vermittelte Matisse seinen Schülern: „Lernen Sie auf dem Boden zu schreiten, ehe Sie auf das Seil steigen. Die Bildhauerei entspricht dem Schreiten am Boden, als Maler steigt man aufs Seil. Das bildhauerische Werk trägt in sich selbst die materielle Dichte und ist mit der Erde verbunden…“
Seine Hinweise und Gedanken verinnerlichte Margarete Moll bis ans Ende ihres Lebens. Sie blieb seinem Beispiel und Vorbild verbunden. Nicht nur intuitiv hatte sie erkannt, wie brillant dieser Lehrer für sie sein würde. Matisse bedeutete für sie, in den revolutionären Neuerungsprozess moderner Kunst eingebunden zu sein. Intensiv studierte sie auf seine Anregungen die Sammlungen des Louvre und der völkerkundlichen Museen.
„Samstags besuchten wir die Museen, um unsere Kenntnisse der alten Meister zu vervollkommnen, denn auch das gehörte zu Matisse` künstlerischer Erziehung. Sehr viel später erst begannen die anderen nach Modellen zu malen, und ich griff zum Ton und fing an zu modellieren. Mir sagte Matisse einmal: „Ein Körper muss vor allem sein Gleichgewicht haben. Eisen und Draht sind nicht zum Aufbau nötig. Er muss stehen, indem sie ihn aus dem Material, in welchem sie arbeiten, entwickeln. Sehen sie einen Baum an, er ist wie ein menschliches Wesen: fest im Boden wurzelnd, oben seine Zweige nach allen Seiten ausbreitend, gleich einem Menschen, der seine Arme braucht, um im Gleichgewicht zu bleiben.“ Ein andermal sagte er: „Ein Auge ist zuerst ein Auge.“
Matisse betrachtete tatsächlich jeden Teil des Körpers für sich. Ein Auge war für ihn ein Auge. Nachdem er alle Teile einzeln studiert hatte, unterwarf er sie der größeren Form. Er riet seiner ersten Bildhauerschülerin: „Verlieren Sie nie den ersten Eindruck, der Sie zu einer Arbeit anregte. Wenn Sie z.B. bei Sonnenschein angefangen haben, hören Sie nicht bei Regen auf.“
Als er über seine Malweise sprach, meinte er: „Der Impressionist setzt die Komplementärfarben eine neben die andere, um die Atmosphäre einer Landschaft zu geben. Er vermehrt oder vermindert die Anzahl der Tupfen, z.B. setzt er Rot neben Grün, je nachdem er zum Licht oder zum Schatten übergeht, vermehrt er die Punkte in die eine oder andere Richtung. Ich dagegen bin mir darüber klar geworden, dass ich mit Hilfe des Auges große Flächen zu einer Einheit zusammenfassen kann, darum arbeite ich mit Farbflächen.
Sobald ich eine Farbe auf meine Leinwand setze, ändert sich für mich der Anblick des Ganzen, und mein Geist beginnt mit dieser Farbe zu arbeiten, so dass mit jeder neuen Farbe, die hinzukommt, neue Probleme entstehen, während das Bild sich zu einem Ganzen zu schließen beginnt.“
Die Studienzeit mit dem anfangs aufgeschlossenen, offenen Matisse war für die junge Bildhauerin Grete Moll stilbildend und prägend. Von ihm lernte sie, ihren Blick auf die Substanz zu richten; festzuhalten am Bild des Menschen als Gestalt und Körper. Er korrigierte mit sicherem Gespür. Besonders im ersten Jahr war Matisse in seiner zunächst recht traditionell angelegten Atelierschule ein origineller, fördernder Lehrer.
Seine eloquente Begeisterung regte die Schüler zur konzentrierten Arbeit an. Seine Hinweise wurden beachtet. Er blieb auch für Margarete Moll ein unerbittlicher Lehrer, der Nachdenklichkeit provozierte und Eigenständigkeit forderte. Matisse formte ihre künstlerische Individualität. Er begeisterte mit Worten und Werken; festigte ihren Glauben an die eigene Arbeit durch unablässige, ungeschmälerte Hingabe. Er machte seinen Schülern klar, dass sie ihr Leben diesem Ziel unterzuordnen hätten. Für sie war der Sechsunddreißigjährige ein Mythos. Kein Wunder, dass die Molls bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs jedes Jahr seine Nähe suchten.
Als Henri Matisse spürte, dass er zu viel eigene Zeit für die Lehrtätigkeit verbrauchte, geriet er in den Zwiespalt, ob er nun Lehrer sein wollte – oder Künstler. Er entschied sich für die Lust an der eigenen Tätigkeit. Sein Interesse an der Malschule ebbte ab. Die ersten Schüler hatten einen anderen, sich erklärenden, fördernden Matisse erlebt. Die späteren einen gespaltenen, resignierenden Lehrer.
Nach und nach verlor er das Interesse an seiner Schule. Die bewegende Existenzphase der Académie war beendet. Des Meisters Ansehen zeigte sich bis 1911 an einer sprunghaft steigenden Schülerzahl. Doch nur einige erlangten Bedeutung.
„Ich bin durch eine Periode des Pointillismus gegangen“, hatte Matisse einmal zu Margarete Moll gesagt, „und meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass ich das, was ich aussagen will, durch die größeren Flächen vereinfache und somit größere Ruhe erziele. So gebe ich dem Beschauer meiner Bilder ein Gefühl der Entspannung und Erholung zugleich.“
Stolz erklärte er, er habe „keinen Augenblick aufgehört zu arbeiten“. Für ihn galt, dass ein Maler nur durch seine Bilder Existenz haben konnte.
„Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen“, schrieb die Bildhauerin später, „ging das Streben von Matisse immer nach Schönheit. Allerdings kam es vor, dass er zu uns sagte, als wir vor einem besonders schönen Modell arbeiteten und wenig erfolgreich waren: Die Vollkommenheit dieses Mädchenkörpers macht es so schwer für Sie.
Zum Unterschied zu seiner früheren Malweise nahm er jetzt für die Schatten nicht mehr die Komplementärfarben, also nicht Rot gegen Grün, sondern er setzte vielleicht ein dunkles Rot gegen ein helleres, trotzdem verteilte er die Farben des Spektrums über seine Leinwand. Und so konnte er die kalten Farben auch für seine Objekte verwenden. Er sagte auch, dass er an die Arbeit immer ohne Theorien herangehe, dass er sich für seine Begeisterung für die Arbeit tragen lasse, dass er aber nachher, wenn er sein Bild betrachte, sich klarzumachen versuche, warum er etwas so und nicht anders gemacht habe…“
„Wenn wir nach solchen Gesprächen ihm sagten, dass wir ihn verstünden, rief er aus: „Das alles hat nichts mit Kunst zu tun! Ich will nicht, dass sie von hier mit Malrezepten fortgehen!“
Matisse, „dieser vitale, starke Gegenwartsmensch“, so beschrieb ihn Margarete Moll, „der stets mit offenen, beobachtenden Augen durch die Welt ging, nie im Omnibus eine Zeitung las, aus Furcht, ihm könne ein seltenes Augenerlebnis entgehen, war aller toten Romantik, aller toten Wissenschaft abhold. Er lehnte es beispielsweise ab, sich mit der Philosophie von Jean Jacques Rousseau abzugeben, die ich gerade las. Diese Ideen seien schon lange in unserem Leben verarbeitet“, entgegnete er ihrem Bemühen.