Mein Porträt
1908 wollte Matisse ein Porträt von seiner Schülerin Margarete Moll malen. Sie erinnerte sich detailliert an sein Vorhaben: „Wir hatten aus Berlin das Foto eines Bildes erhalten, das Corinth von mir gemalt hatte. Als Matisse das Foto sah, fand er es gar nicht ähnlich und sagte: Das ist aber nicht Frau Moll, so wie ich sie sehe. Sie ist viel jugendlicher. Ich möchte gern selbst einmal ein Porträt versuchen.“
Natürlich war das Ehepaar Moll „sehr angetan von diesem Gedanken. Wir sprachen über den Preis und 1000 Francs waren recht hoch für uns! Es waren damals 800 Goldmark.“
„Wenn Sie das Bild nicht mögen, behalte ich es selbst. Malen möchte ich es“, fügte Matisse damals noch hinzu. „Alsbald sprach er von seiner Absicht, das Porträt mit einer Wachslösung zu malen, und zeigte mir eine Flasche, die eine Lösung von Wachs mit Terpentin enthielt. Diese Mischung wollte er der Farbe statt des üblichen Malmittels beimischen. Er wies auf ein damit gemaltes älteres Bild hin, polierte es mit einem Wolllappen und meinte, es bekäme dadurch einen schönen, seidenweichen Glanz.“
Täglich ging sie für drei Stunden in sein Atelier, „versäumte meine eigenen Studien. Es war mir nicht erlaubt, auf die Leinwand zu sehen, aber ich beobachtete eifrig seine Pinsel und die Palette und gewann ein starkes Gefühl für die Logik seiner Arbeit. Wenn meine weiße Bluse erst grün war, dann lila wurde, so zog das die Änderung aller Lokalfarben nach sich. Der schwarze Rock blieb zwar schwarz, bekam aber vielleicht Grün statt Ocker untergemischt, und die Haarfarbe wurde dementsprechend umgeändert.
Jedes Mal, wenn die Farbe geändert werden sollte, wurden die Flächen sorgfältig abgewaschen, so dass das Bild trotz aller Änderungen prima gemalt war, worauf Matisse Wert legte. Nach der zehnten Sitzung sandte er mich fort und sagte, er wolle in den Louvre gehen. Ich konnte noch einen Blick auf das Bild werfen, und es gefiel mehr sehr. Als ich das nächste Mal wiederkam, war das Bild fertig. Es war ohne mich umgemalt worden.
Als wir dann das Bild zum ersten Mal sahen, waren wir recht enttäuscht. Nach meinem Gefühl war alle frühere Ähnlichkeit verschwunden. Matisse gab selbst zu, dass ihn im Louvre ein Bild von Veronese so tief beeindruckt und so dem entsprochen habe, was er gerade zum Ausdruck bringen wollte, dass er versucht habe, meinem Porträt die gleiche „Grandeur“ zu geben, die er in dem Veronese gefühlt habe.“
„Das Bild wurde unser, und wir liebten es mehr und mehr. Es war bis nach dem Zweiten Weltkrieg in unserem Besitz. Es ist eines der schönsten und wichtigsten Bilder von Matisse. André Salmon, der Kunstkritiker, war damals so begeistert, dass er schrieb: „Ich könnte den Mann töten, der es besitzt, um es mein eigen zu nennen.“
(Leider geriet das Werk in den Wirren der deutschen Nachkriegszeit in fremde Hände. Die Molls wollten es in Sicherheit bringen. Sie hatten zu viel verloren. Das Bild sollte in der Schweiz deponiert werden. Eine Schülerin von Oskar Moll, die über die Schweiz mit ihrem Baby nach Persien zu ihrem Ehemann flog, nahm es mit und verkaufte es ohne Genehmigung. Es tauchte Jahre später im amerikanischen Kunsthandel auf und kam in den Besitz der National Gallery in London.)
In ihren Erinnerungen über Matisse schreibt sie: „Während mein Bild gemalt wurde, hing hinter mir das große Bild, das Osthaus gekauft hatte. Eines Nachmittags kamen die russischen Sammler Tschukin und Morosow zu Matisse. Als sie „Les Baigneuses à la Tortue“ sahen, waren sie so begeistert, dass sie das Bild unbedingt haben wollten. Da es aber bereits Osthaus gehörte, schlugen sie vor, eine Kopie anzufertigen, was Matisse nach einigem Zögern ablehnte. Darauf bestellten sie zwei andere große Bilder in den gleichen Farben.“
Die Molls zahlten für das Porträt eintausend Francs. Für den Auftrag der russischen Sammler verlangte Matisse je 20 000 Francs. „Matisse zeigte sich der Situation gewachsen“, kommentierte Margarete Moll augenzwinkernd.
Mit dem Auftrag der russischen Sammler kam mehr Geld ins Haus des Franzosen. Der materielle Erfolg garantierte auch seiner Familie einen anderen Lebensstil. Eine Begebenheit aus dieser Zeit erzählte Margarete Moll gern:
„Waren diese Bilder erst einmal abgeliefert, dann konnte Madame Matisse ruhigen Herzens ihre Anschaffungen für den Haushalt machen. Glücklich war sie vor kurzem heimgekehrt. Sie hatte Betttücher im „Bon Marché“ gekauft. Matisse aber war am gleichen Tag in einer anderen Richtung auch unterwegs gewesen. Ein wunderbarer Perserteppich hatte es ihm angetan! Das Ornament wollte ihm nicht aus dem Sinn. „Qu`il est beau! Qu`il est beau!“ So hörte es Frau Matisse bis zum nächsten Tag. Beides aber – Teppich und Betttücher – anzuschaffen, das war unmöglich.
Was blieb Madame Matisse übrig? Sie ging zum „Bon Marché“, brachte die prosaischen Betttücher zurück und holte ihr Geld wieder ab. Das konnte man damals in Paris. Der Teppich wurde umgehend gekauft. Allabendlich saß nun der Meister gelassen im Lehnstuhl, sann dem milden Rauch seiner Zigarre nach und ließ genießerisch die Blicke über seinen schönen Teppich schweifen, dessen Farben und Ornamente ihm so viel Anregung geben sollten…“
Gelegentlich besuchte das Ehepaar Moll die Familie Matisse. Einmal waren sie zum Diner eingeladen. „Es wurde festlich gestaltet, unser Modell fungierte als Diener und zum Nachtisch gab es Sekt. Beim gemütlichen Plaudern kamen wir auf deutsche Weihnachtsbräuche zu sprechen, und Matisse regte an, dass wir seinen Kindern doch die Freude verschaffen sollten, einen deutschen Weihnachtsbaum kennen zu lernen.“
Die Molls erfüllten ihm den Wunsch. Sie suchten in Paris, wo der Tannenbaum unbekannt war, nach Christbaumkugeln, Lametta und Kerzenhalter. Nach langem Suchen fanden sie Weihnachtsschmuck und sogar einen „Christbaum“. Und so konnten sie der Familie Matisse und deren Kinder mit dem „deutschen Weihnachtsbaum eine Festfreude machen. „Für uns allein wären wir in Paris wohl nicht dazu gekommen.“
Im Sommer 1908 kehrten beide nach Deutschland zurück, „trafen aber schon bald Purrmann und Matisse in Heidelberg wieder… Wir ahnten nicht, dass wir auch das nächste Weihnachtsfest wieder mit Matisse zusammen verbringen würden, diesmal in unserem Berliner Heim“, notierte Margarete. Freund Purrmann begleitete Matisse. Bei Cassirer in Berlin sollten zum ersten Mal die Bilder des Franzosen ausgestellt werden. Deshalb war er nach Berlin gekommen und wurde bei allen Künstlern „herumgereicht“.
Seine Bilder erregten Aufsehen, lösten aber auch verblüfftes Staunen, ja sogar Bestürzung aus. Kurz zuvor hatte Cassirer in seiner Galerie zum ersten Mal Cézanne gezeigt. Auch hier war ablehnende Skepsis registriert worden. Noch waren die progressiven Pariser Maler in Deutschland weitgehend unbekannt. Auch Freunde des Ehepaars Moll glaubten, als sie in deren Wohnung Bilder von Matisse sahen, „es handele sich um einen Aprilscherz“, erzählte Margarete Moll. „So befremdend wirkten damals selbst auf Fachleute diese Bilder!“
Sie hatte die „Notes d`un Peintre“ von Matisse übersetzt und dem deutschen Bildhauer August Gaul gegeben, der ihre Arbeit leider irgendwo liegen ließ und vergaß. „Vielleicht zirkulieren sie heute noch in Berlin“, witzelte Margarete Moll später. Tatsächlich ging ihre Übersetzung von Hand zu Hand.
Seit Frühjahr 1908 war die dreiundzwanzigjährige Künstlerin schwanger, erwartete ihr erstes Kind.