Marg Moll

Marg Moll, deutsche Maler- und Bildhauerin (1884-1977)

Einleitung

Es war eine Sensation, ein Paukenschlag. Im November 2010 berichtete die nationale und internationale Presse über den Berliner Skulpturenfund, der auf der Museumsinsel im Griechischen Hof des Neuen Museums über ein Jahr lang gezeigt wurde: „Entartete Kunst im Bombenschutt“.

Verschollene, von den Nazis geächtete Kunstwerke waren ausgebaggert worden. Endlich wurden sie gezeigt, wenn auch beschädigt und teilweise zerstört. Eine berührende Präsentation. Im Blickfang stand eine bronzene Figur von Marg Moll. Auch sie war neben den anderen Werken verfemter deutscher Künstler aus dem Kriegsschutt vor dem Roten Rathaus in Berlin ausgebuddelt worden. Ein spektakulärer Zufallsfund, der fundiert auf-bereitet und begleitet wurde.

Bei Grabungsarbeiten war man im Januar 2010 auf einen metallenen Gegenstand gestoßen. Aus dem Schutt kriegszerstörter Gebäude bargen Berliner Archäologen nach und nach weitere Kunstwerke. Der Aufsehen erregende Fund führte in die dunkelste Phase deutscher Geschichte.

„Entartete Kunst“ – unter diesem Schmähtitel waren wichtige Werke der modernen Kunst ab 1937 von den Nazis in einer Wanderausstellung verhöhnt und verspottet worden. Darunter auch die „Tänzerin“ von Marg Moll, die neben weiteren, leider auch verschollenen Skulpturen dieser Künstlerin, einst dem Breslauer Museum gehörte. 

Durch die umsichtige Grabung der Berliner Archäologen und die sorgfältige Arbeit der Restauratoren des Museums für Vor- und Frühgeschichte wurde ein Licht auf eine wichtige, leider inzwischen fast vergessene deutsche Künstlerin geworfen, deren Werke durch den Zweiten Weltkrieg und die schändliche Fanatisierungsswut der Nationalsozialisten weitgehend zerstört wurden.

Zwischen 1965 und 1977 führte ich wegen einiger Ausstellungen und Projekte mehrere vertiefende Gespräche mit der Bildhauerin Marg Moll, die damals in Düsseldorf und danach in München lebte und arbeitete. Ich konnte sie und etliche Zeitzeugen – darunter den Architekten Hans Scharoun, die Maler Johannes Molzahn und Georg Muche, aber auch den Bio-grafen ihres Mannes, Siegfried Salzmann - nach prägenden Lebens-situationen und privaten Erfahrungen fragen. Einigen Kunsthistorikern, vor allem Gora Jain, verdanke ich wichtige Erkenntnisse.

Wie nur wenige zeitgenössische deutsche Bildhauerinnen verkörperte Marg Moll im 20. Jahrhundert europäische Identität. Sie wusste sich ihren Wurzeln, ihrer Geschichte und Tradition verbunden, beeindruckte durch Aufbruch, Achtsamkeit und Toleranz. Anfang des 20. Jahrhunderts, 1902, durchbrach sie traditionelle Zwänge und Lebensmuster; verließ ihr Elternhaus, um Künstlerin zu werden. Knapp achtzehn Jahre alt war sie.

Selbstbewusst, durchsetzungs- und risikobereit suchte sie nach fundierter Grundausstattung. Zunächst in Deutschland, vor allem bei Lovis Corinth, danach in Frankreich bei Henri Matisse. Als seine erste deutsche Bildhauerschülerin studierte sie bei ihm in Paris, gehörte zu den Mitbegründern seiner Akademie. Als eine der ersten Frauen in Deutschland beschritt sie den noch kaum erschlossenen, recht umstrittenen Weg zur modernen Skulptur. Sie arbeitete konsequent und unbeirrbar, öffnete sich für neue Strömungen und Sichtweisen.

Marg Moll reiste quer durch Europa, modellierte, malte, experimentierte, entwickelte. Mit ihrem Mann, dem Maler Oskar Moll, brach sie – oft aber auch allein – immer wieder zu vielfältigen Studienreisen und Begegnungen mit avantgardistischen Künstlern wie Léger, Brancusi u.a. auf. 

Vitale, experimentelle Lust und expressive Kraft beflügelten sie und ließen eine eigenwillige, moderne bildhauerische Ausdruckssprache entstehen. Aufgewachsen in zwei Vaterländern, rang sie Zeit ihres Lebens um eine immer gehaltvoller werdende Formstabilität, um einen Platz in der modernen Kunst.

Vorurteilsfrei arbeitete sie, hielt Ausschau, beteiligte sich Anfang des 20. Jahrhunderts am radikal Neuen, an einer entscheidenden Wende. Rück-schläge und Schmähungen ertrug sie; betrieb ohne ideologische oder nationale Scheuklappen den interkulturellen Dialog zwischen den Künstlern vieler Völker. Wach, feinfühlig und beherrscht arbeitete sie mit am grenzüberschreitenden Kulturaustausch einer jungen, oft verirrten und ins Abseits geratenen Gesellschaft. Sie befruchtete durch ihre Arbeit und Lebensleistung sowohl das Zusammenspiel als auch die Zusammenarbeit äußerst unterschiedlicher Künstler in Europa.

Ihrem beharrlichen, von zäher Geduld geprägten Naturell und ihrer Form-kraft ist es zu verdanken, dass sie zu den wichtigen, leider vergessenen Künstlerinnen in Deutschland gehört, die der modernen Skulptur den Weg bereitet haben. Ihre 2010 im Berliner Grabungsschutt wiedergefundene „Tänzerin“, die um 1930 entstand, beweist es nachdrücklich.

Zu allem Unglück wurde Ende des Zweiten Weltkriegs ihr Haus in Berlin, das ihr Freund, der Architekt Hans Scharoun gebaut hatte, durch einen Luftangriff zerstört. Brandbomben vernichten sowohl den Großteil der Arbeiten von Marg und Oskar Moll als auch eine der umfangreichsten, wertvollsten Sammlungen avantgardistischer Bilder und Skulpturen, die das Ehepaar zusammengetragen hatte.

Fast achtzig Prozent ihrer Werke, all ihr Hab und Gut, sämtliche Fotos und Dokumentationen, ihr Archiv, wurden durch Krieg und Flucht zerstört. Das meiste davon buchstäblich in einer Nacht. „Es kam mir abhanden“, sagte sie in einem Gespräch. Doch sie begann immer wieder neu, versuchte weiter zu formen, zu schnitzen, zu modellieren, zu malen.

Ihr Leben dokumentiert auch die fortwährende Auseinandersetzung mit der eigenen, durch Hoffnung geprägten Leistungszuversicht. Tragik und Freude lagen beieinander. Sie blieb gelassen, obwohl sie fast alles er-leben musste, was Menschen aushalten können.

Typisch für Marg Moll sind in ihren Arbeiten die Urgesten mitfühlender Hingabe und meditativer Konzentration. Künstliche Schwaden umgeben ihr Oeuvre nicht. Ihre Skulpturen schaffen Distanz ohne Pathos. Ihr Prinzip hieß Hoffnung. Ihm folgte sie ohne Sentimentalität. Sie blieb an der Natur orientiert, abstrahierte, reduzierte. Ihre Arbeiten drücken eine dem Leben zugewandte Sinnlichkeit aus.

„Ich studiere alles, was mich interessiert, zum Beispiel einen Stein, ein Blatt, ein Insekt“, betonte sie am Rande der Dreharbeiten zu dem Film „Unser gemeinsames Leben“, den 1966 der Dokumentarist und Fotograf Karl Wiehn drehte: „Ich suche die Form, ich finde den Rhythmus.“

Jedes Kunstwerk schweigt und berührt zugleich, löst Empfindungen aus und ist davon erfüllt.

Deshalb berührte auch mich der Berliner Skulpturenfund 2010. Im Schutt der alten Königstraße war eine Spur entdeckt worden, die Geschichte für unsere Gegenwart sichtbar macht. Wenige Jahre zuvor hatte der Berliner Senat der Tochter, die in München lebt, mitgeteilt, dass die Anerkennung der Ehrengrabstätte der Molls in Berlin-Zehlendorf nicht mehr verlängert werden kann.

Werner Filmer  (März 2012)